Oberhausen im Ruhrgebiet – Die Geschichte einer außergewöhnlichen Ruhrstadt

13. November 2020

Zum 100. Geburtstag
der ersten politischen Vertretung des Ruhrgebiets

Von Dr. Magnus Dellwig

Im Jahr 1920 wird Groß-Berlin gebildet. Die Metropolregion
an der Spree mit fast 4 Millionen Einwohnern rückt damit in die erste Liga der
europäischen Zentren auf. Das Ruhrgebiet und der Staat Preußen nehmen das als Anstoß
und fassen auch das Ruhrgebiet erstmals in seiner Geschichte verwaltungsmäßig
zusammen: 1920 entsteht der SVR – der Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk. Er ist
mit fast 6 Millionen Einwohnern Europas größte Industrieregion. Seine Kommunen
erkannten damals, dass so elementare Aufgaben wie Verkehr, Wohnen, Grünflächen,
Stadtplanung nicht mehr in den Griff zu bekommen wären, falls nicht interkommunal
zusammengearbeitet werde.

So kleidete sich ein Oberhausener Pärchen zum Flanieren auf der Marktstraße nach 1920, Ausstellungsansicht, 2020 © LUDWIGGALERIE Schloss Oberhausen


Was ist in Oberhausen anders als im Rest des Ruhrgebiets? – Eine Stadt
entsteht ohne vorindustrielle Wurzeln!

Blicken wir heute auf das Ruhrgebiet, herrscht die weit
verbreitete Meinung: Die Städte der Region sind sich sehr ähnlich, haben eine
weitgehend gleiche Prägung durch die Epoche von Kohle und Stahl erlebt. Deshalb
ist es klar, vom Ruhrgebiet als einer Region zu sprechen.

Dem stelle ich die etwas provokative These entgegen: Oberhausen ist
anders als jede der übrigen Städte zwischen Moers und Hamm, zwischen Recklinghausen
und Hagen! Das Einmalige an Oberhausen ist: Vor dem Einzug von Industrie und
Eisenbahn gab es nichts! Kein Dorf, keine Kirche, keine Schule, keinen
Marktplatz, keine öffentliche Verwaltung. Oberhausen entstand auf 900 Hektar
Lipperheide. Der Sandboden war so bescheiden – Entschuldigung, ertragsarm –
dass im Zeitalter der Landwirtschaft, das von der Steinzeit bis zur Erfindung
der Dampfmaschine reichte, für Menschen schlicht die Lebensgrundlagen fehlten.
Und das war nirgends im Ruhrgebiet so! Duisburg, Essen, Recklinghausen und
Dortmund waren Städte, Osterfeld und Sterkrade immerhin Dörfer. An ihre Ränder
konnte sich Industrie anlagern. In Oberhausen wurde 1846/47 die Köln-Mindener
Eisenbahn – die „A 3“ des 19. Jahrhunderts – von Köln nach Berlin gebaut und
sogar ein Bahnhof angelegt. In nur 10 Jahren war der Ring um diesen Bahnhof mit
Fabriken geschlossen. Eiligst mussten nun Straßen, Wohngebäude, Schulen und
alles weitere her. Die 1862 gegründete Bürgermeisterei Oberhausen hechelte
fortan der dynamischen Industrialisierung und Städtebildung hinterher. Und wie
dynamisch Oberhausen war! Eine der am schnellsten wachsenden Städte der Welt:
Binnen eines halben Jahrhunderts von 1862 bis zum Ersten Weltkrieg explodierte die Bevölkerungszahl fast um das 20-Fache: Aus 5.590 wurden 103.500
EinwohnerInnen.

Es
sollte das Zentrum Oberhausens werden – dann versank der Raum im Wasser. Von
1970 bis 1880 erstreckte sich die Bergsenkung „Concordia-See“ vom heutigen
Gesundheitsamt bis zum John-Lennon-Platz. Karte von Oberhausen mit der Ausdehnung des Concordia Sees, 1913 © Stadtarchiv Oberhausen

Die
Häuser an der heutigen Grillostraße bekamen nasse Füße. Der Concordia-See war
bis zu 2,50 Meter tief und 13! Hektar groß. – Erst mit Bau der Kanalisation
verschwand er schließlich. Concordia See, um 1875 © Stadtarchiv Oberhausen


Aber trotz dieser schwierigen Umstände, die
Oberhausener Kommunalpolitiker und Bürgermeister schafften es, die
Lebensbedingungen immer weiter zu verbessern. Das war teuer, kostete
Steuergeld, wurde aber von den Industriellen und Kleinunternehmern im Stadtrat
eingesehen: Ihre Fabriken und Geschäfte konnten nicht wachsen und verdienen,
wenn nicht die Stadt um sie herum geordnet mit wuchs. Vor allem brauchte die
Stadt Wohnungen für Arbeitskräfte, Schulen für deren Kinder, aus denen ja
wieder Arbeitskräfte werden sollten.

Neben
dem Rathaus waren sie Highlights des Backsteinexpressionismus der 1920er Jahre.
Die Qualität der Architektur öffentlicher Gebäude gab der Innenstadt
großstädtisches Flair!

Was diese Besonderheit Oberhausens gegenüber dem Rest des
Ruhrgebietes – und ganz Deutschlands im 19. Jahrhundert – bis heute bewirkte?
Gehen wir von Norden nach Süden über den Oberhausener Friedensplatz vom
Amtsgericht an der Polizei vorbei zum Europahaus und weiter zum
Bert-Brecht-Haus, dann begreifen wir es! Auf dieser Fläche, die heute eine
gelungen gestaltete Brücke schlägt vom Geschäftszentrum Marktstraße zum
Verkehrs- und Verwaltungszentrum zwischen Bahnhof und Rathaus, stand bis 1903
eine mächtige Fabrik. Auf  200 mal 350
Metern breiteten sich Hochöfen und Werkshallen der Styrumer Eisenindustrie aus.
700 Menschen arbeiteten dort. Dann stellte die Eisenhütte 1901 den Betrieb ein.
Über 25 Jahre gestaltete die Stadt beharrlich diesen Raum um und schuf damit
erst eine zusammenhängende, großstädtische Innenstadt. Rechteckige Straßen und
Plätze, viele Parks prägen Oberhausen dort, wo andernorts ein Straßenring auf
den Fundamenten einer ehemaligen Stadtmauer ein verwinkeltes Straßennetz
umschließt.

Kommen Sie in unsere Ausstellung „Oberhausen. Aufbruch macht Geschichte.
Strukturwandel 1847–2006“, wenn diese wieder öffnet! Schauen Sie selbst
anhand alter Karten und neuer Pläne, was Oberhausen ausmacht und wie
tiefgreifend es sich veränderte! Hier zeigen wir Ihnen aber schon einmal die
eben erzählte Geschichte vom Verschwinden der Styrumer Eisenindustrie: In den
äußerst detaillierten Stadtplan von 1921, der einen noch weitgehend unbebauten
Friedensplatz zeigt, ist die vorherige Lage der Fabrik in den Ausmaßen von 1857
hineinmontiert. Schon 1872 aber war die Styrumer Eisenindustrie doppelt so
lang geworden und erstreckte sich bis zum heutigen Bert-Brecht-Haus am
Saporisha-Platz (damals Industriestraße).

Die
Kartenmontagen der Bebauung von 1857 in den offiziellen Stadtplänen von 1872
und 1921 zeigen: Erst explodierte die Bebauung und die Größe der Fabriken am
Bahnhof. Dann verschwand die Industrie aus dem wertvollen Raum zwischen
Altmarkt und Rathaus.

 


2020 Ausstellung Home Oberhausen Stadtarchiv